Las Vegas - Überleben in der Unterwelt

06.01.2010, Unter der Glitzerstadt Las Vegas hausen hunderte Obdachlose in Regenwasserkanälen - Aus den Augen, aus dem Sinn

Hunderte von Obdachlosen leben in den unterirdischen Tunnels.

Hohl hallen die Schritte durch den stockfinsteren Tunnel, platschen durch eine Pfütze. Eine leere Bierdose klappert davon. Vom Lichtkegel der Taschenlampe aufgeschreckt, flüchtet eine räudige Katze unter einen Abfallhaufen. Neben einem zerfledderten Teddybären lehnt ein schmutziges Kochmesser. An den wenigen hellen Flecken zieren Graffiti die Wände. Es stinkt nach Müll, fauligem Wasser und nasser Kleidung.

Unter der glitzernden Kasinowelt von Las Vegas, Welten entfernt von Neonlichtern und Amüsiertempeln, erstreckt sich eine unbekannte Unterwelt der Gestrandeten. Rund 300 Menschen leben im weitläufigen System der Regenwasserkanäle unter der Spielerstadt - die meisten von ihnen Männer in mittleren Jahren, süchtig nach Alkohol, Drogen oder dem Spiel oder nach allem zusammen. Willkommen geheissen wird hier niemand. Die Polizei lässt sich selten blicken. Die meisten Tunnelbewohner sind behelfsmässig bewaffnet. Doch sie haben in dem düsteren Labyrinth ihre Zuflucht gefunden.

Manche Schlafplätze sind spartanisch nur mit fadenscheinigen Decken ausstaffiert, andere möbliert wie eine Wohnung, mit Doppelbett, Essgeschirr und Nippes. «Man staunt, was in diesem Kanal alles angeschwemmt wird. Es ist kaum zu beschreiben», sagt Rick «Iron» Cobble, der sich in einem 1,50 Meter hohen Tunnel unter dem Südende des Strips eingerichtet hat. Der 45-Jährige ist schwer drogenabhängig; seine ganze Habe besteht aus ein paar Decken und der Kleidung, die er trägt. «Im Moment versuche ich nur zu überleben», sagt er. «Anders kann mans nicht sagen.»

800 Kilometer langes Labyrinth aus Flutkanälen

Der pensionierte Strafvollzugsbeamte Rich Penksa ist für die Obdachlosenhilfe HELP in der Unterwelt unterwegs. Erfahren hat er darüber von Häftlingen, die ihm erzählten, wie sie unter der «Stadt der Sünde» lebten, wenn sie nicht gerade einsassen. «Ich glaube, ich habe noch nie so etwas Merkwürdiges erlebt wie in diesen Tunneln», sagt er.

Das System aus 800 Kilometern Tunneln, Becken, Röhren und Kanälen wurde angelegt, um die in dem Wüstenklima seltenen, aber heftigen Regenfälle aufzufangen und das Wasser in den Lake Mead abzuleiten. Rund 300 Kilometer davon sind unterirdische Leitungen von 60- Zentimeter-Rohren bis zu 3,60 Meter hohen und sechs Meter breiten Kanalschächten, wie Betty Hollister von der zuständigen Behörde des Clark County erklärt.

Die Einwohnerschaft dieser Unterwelt sei eine ganz spezielle Sorte, sagt Penksa. «Selbst die Obdachlosen über der Erde sind sehr misstrauisch gegenüber den Tunnelbewohnern. Die sind gefürchtet.» Penksa ist auch vereinzelt Kindern und Frauen begegnet, die allein dort unten hausen, aber keinen Familien. Die meisten der Männer wollten keine Hilfe, berichtet er. Dennoch konnte seine Organisation seit März 18 Tunnelbewohner in festen Unterkünften unterbringen.

«Im Tunnel wartet dein Zuhause»

Die meisten Unterweltler haben etwas gegen Eindringlinge und wollen nicht reden. In den Tunneln werde er weitgehend in Ruhe gelassen, erklärt Eric, der seit fünf Jahren unter den Kasinos lebt und seinen Nachnamen nicht genannt haben will. «Hier unten sind wir aus den Augen, aus dem Sinn», erklärt er. «Ist mir recht. So ist es mir am liebsten.»

In den zappendusteren Gängen lässt es sich leben, meint er, wenn man nicht an Klaustrophobie leidet, sich nicht an Schaben und Spinnen stört und üble Gerüche aushalten kann. Die Leute landeten aus den unterschiedlichsten Gründen hier; bei Eric war es die Drogensucht. «Das ist die schlimmste Lage, in die man kommen kann, und ich bin selber dran schuld.»

Abhängig seien die meisten, berichtet der Autor Matthew O'Brian, der ein Buch über die Unterwelt von Las Vegas geschrieben hat. «In diesen Tunneln stört dich keiner, da schikaniert dich keiner, da gibt es eine Beständigkeit», erklärt er. «Wenn du rausgehst und wiederkommst, weisst du, da unten im Tunnel wartet dein Zuhause.» 20min.ch

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